« zurück zur Übersicht
  • Plädoyer für das Nachreifen des Denkens

    Maggia, Juli 2020

    Lassen Sie grüne Tomaten und harte Avocados nachreifen? Oder muten Sie sich diese lieber hart und fad im Geschmack zu?

    In der Annahme, dass Sie sich für das Nachreifen entscheiden, wage ich mich weiter vor und stelle Ihnen die Gretchenfrage: «Wie haben Sie’s mit dem Denken? Lassen Sie es nachreifen, wo nötig und sinnvoll?»

    Eine merkwürdige Frage? Auch wenn unser Verstand gut geschult in Diskussionen wertvolle Argumente liefert, das Erlernen neuer Fähigkeiten ermöglicht oder uns neue Konzepte verstehen lässt, kann er zwischendurch gewaltig nerven und uns wie ein hormongeschütteltes Jungwesen mit Vorwürfen bombardieren: «Schon wieder konntest Du Deiner Chefin Dein Anliegen nicht verständlich darlegen und beim Joggen kamst Du deutlich stärker ausser Atem als Deine Kollegin. Und was ist eigentlich mit dem emotionalen Ausbruch, als Dir Dein Sohn gefühlt zum hundertsten Mal an den Kopf geworfen hat, er müsse mehr helfen als seine jüngere Schwester? Hast Du Dir nicht vorgenommen, ruhig zu bleiben und Dich nicht in kräfteraubende Machtkämpfe mit ihm einzulassen?»

    Ich weiss nicht, wie Sie es haben. Doch ich bin es müde, mir von meinem Denken unnötig Energie absaugen zu lassen.

    Somit plädiere ich für die Nacherziehung des Denkens.

    Und reihe mich damit in eine Vielzahl von Ansätzen ein, die behaupten, ein Denken, dem das ewige Vergleichen und Bewerten madig gemacht werde, sei ein friedlicheres und zufrieden machenderes.

    Das Denken nacherziehen. Ein Kampf, der sich auszufechten lohnt. Immer wieder, so dünkt mich.

    Weil der Verstand sich gerne in Dinge einmischt, für die er sich wenig bis gar nicht eignet. Oder wieso sollte er uns einreden, wir seien langweilig? Und wieso messen wir uns auch noch mit fünfzig an der faltenlosen und straffen Haut der Jugend? Dahinter steckt unsere Fähigkeit zu vergleichen. Doch seien wir ehrlich, nur weil wir wissen, wie Komplimente machen, machen wir uns auch nicht den lieben Tag lang Komplimente. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie einen Teil Ihrer Energie für die Nach-Erziehung Ihres Denkens verwenden. Wie das geht, fragen Sie mich? Identifizieren Sie sich nicht mit Ihrem Denken, beginnen Sie Distanz zu schaffen und es, also das Denken, zu beobachten. Oft schämen wir uns, wenn wir bei einer vermeintlich dummen Antwort ertappt werden oder unsere Aussage von jemand anderem als Gemeinheit oder Beleidigung empfunden wird. Sind wir mit unserem Denken identifiziert à la «So bin ich halt!», kann es sein, dass wir uns dann innerlich verschanzen und das Gegenüber als übersensibel bezeichnen oder uns, wenn alleine, mit Selbstvorwürfen und -abwertungen bombardieren. Das kennen Sie, oder? Ich durchaus.

    Unsere Gedankengänge sind nicht angeboren. Diese denken wir uns aus. Und genau so, wie wir sie uns gedacht haben, können wir sie auch wieder fallen lassen. Und uns neue Gedanken ausdenken. Manche Gedanken haben wir jedoch so oft gedacht, dass sie sich neuronal fett gebahnt haben und wie gut gebaute Autobahnen, stets von neuem leicht zu befahren oder eben zu denken sind. Auf diese wird unser Verstand in unbedachten Momenten, vorallem auch wenn wir im Stress sind, gerne zurückgreifen. Lassen wir uns davon nicht aufstören, sie sind bald ausgedacht. Wir müssen sie lediglich als alte Denkmuster identifizieren und uns wieder neuem, erbaulicherem Denken widmen.

    © Nicole Gilgen, lic. phil, Fachpsychologin für Coaching-Psychologie FSP

    Print Friendly, PDF & Email
  • Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert