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  • «mit ganz enorm wenig viel»

    Bern, September 2019

    Wieviel brauchen wir?

    «mit ganz enorm wenig viel» übertitelte das Kunstmuseum Bern im 2006 die Retrospektive gewidmet Meret Oppenheims Werk. Eine Ausstellung, die Bene – mein verstorbener Mann – und ich im September 2006 besuchten.

    «mit ganz enorm wenig viel» – eine Zeile eines Gedichts von Meret Oppenheim. Ich nehme mir die Freiheit, das Gedicht beiseite zu lassen und mich nur von diesen Worten leiten zu lassen.

    Was ist denn, wenn wir weniger haben? Wenn ein geliebter Mensch dem Tod entgegengehen muss, so wie dies Bene vor zwei Jahren musste?
    Eines Abends erzählte er mir erstaunt, was er alles gerne gegessen habe in seinem Leben: Risotto, Wildgerichte, Gulasch, Panna Cotta und vieles mehr.
    Später, nach Benes Tod, nach Stunden der Trauer und unzähligen Gedankengängen erschloss sich mir, was ich vorher so nicht wahrnehmen konnte: Bene war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr traurig darüber, dass sein Leben weniger und weniger wurde. Im Gegenteil, er konnte die Fülle seines und unseres Lebens sehen.
    Und plötzlich sah auch ich die Fülle seines und unseres Lebens.

    Was ist denn, wenn wir weniger haben? Rein dadurch, dass wir älter werden und über weniger Kräfte verfügen? Der Planet nicht mehr so viel hergibt und uns unsere Endlichkeit und unsere Grenzen auch hier vor Augen geführt werden? Unsere Eltern oder auch wir lebten in Zeiten des Wiederaufbaus, des Aufschwunges. Gewissermassen auch der Machbarkeit. Damals schien alles möglich und machbar. Und ich sage nicht, dass wir heute keine Möglichkeiten mehr haben und die Welt eine schlechtere geworden ist. Nein. Doch sind wir uns wohl alle einig, dass wir zumindest aus ökologischer Sicht an eine Grenze stossen und realisieren, dass Kapitalismus keine eierlegende Wollmilchsau ist. Die Phasen des Aufschwunges und Aufbaus haben sich erschöpft und der Kapitalismus sollte als Antwort auf diese Phasen begriffen werden und nicht als Paradigma, das auch in der heutigen Phase, ich nenne sie Minderung, noch Gültigkeit hat. Auch wenn Sie jetzt nicht meiner Meinung sein sollten, lassen Sie uns noch etwas in meinen Überlegungen bleiben.

    Bei meiner täglichen Arbeit und Begegnung mit Menschen habe ich realisiert, dass wir privat wie beruflich in vielem noch so handeln, als wären Wachstum, Effizienz- und Qualitätssteigerung allzeit möglich und sinnvoll. Es finden Gespräche statt, in denen Leistung und Verhalten von Mitarbeitern, von Schülern beleuchtet werden. Wo sie noch Potenzial hätten oder was sie noch verbessern könnten, hören sie dort. Das ist doch toll und eine Form von Anerkennung sagen Sie vielleicht jetzt. Oder was ist daran schlecht, wenn man einander zu mehr Qualität oder Quantität anregt? Daran ist grundsätzlich nichts falsch. Doch können wir Hinweise zur Verbesserung auch als Abwertung von dem verstehen, was jemand nach bestem Wissen und Gewissen zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht hat. Und dann wird aus dem «Wenigen» nicht «enorm viel». Es wird weniger. Weil Verbesserungsvorschläge implizit wie Kritik wirken. Welche das Selbstwert-Konto untergräbt statt anhäuft.

    So frage ich, würde weniger nicht auch genügen? Dann würden wir eine brauchbare Leistung nicht mit Verbesserungsvorschlägen entwerten. Und eine gute Leistung, das vermeintlich Wenige, als «viel» oder gar «enorm viel» betrachten können.

    Nehmen wir eine andere Situation. Sie haben etwas Wunderbares erlebt; sind stolz darauf, dass Sie den Berg hochgekraxelt sind oder dass Sie sich endlich überwunden haben und die Steuererklärung doch noch innerhalb der ersten Fristverlängerung abschliessen konnten. Und kaum hat sich die Freude über das Erlebte in Ihnen angestimmt, würgen Sie diese mit bewertenden Gedanken wie «Mensch, wieso habe ich das nicht bereits früher oder häufiger getan?». Natürlich können wir so denken und damit versuchen, etwas Gutes uns zur Gewohnheit werden zu lassen. Doch wenn wir automatisch so denken, verdrängen wir die Freude aus unserem Leben. Und aus «wenig» wird weniger und nicht «enorm viel».

    Fülle entsteht nicht automatisch durch mehr und mehr. Fülle bedarf auch der Leere, deren Gegenteil sie ist; ohne letztere wäre sie nicht als Fülle erkennbar. Und wann die Fülle beginnt, ist letztlich auch eine Frage unserer Betrachtungsweise und Haltung: Und plötzlich sah auch ich die Fülle seines und unseres Lebens.

    Doch zurück zu Meret Oppenheims ««mit ganz enorm wenig viel».

    Wie es wohl wäre, öfter zu sagen «mit weniger viel»?
    Wie es wohl wäre, manchmal zu sagen «mit wenig viel»?
    Wie es wohl wäre, hie und da zu sagen «mit ganz enorm wenig viel»?

    © Nicole Gilgen, lic. phil, Fachpsychologin für Coaching-Psychologie FSP

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